Zurück zu den Wurzeln
Ein neuer, alter Bekannter hat seine Zelte in Berlin aufgeschlagen. Siemens Energy gibt es formal erst seit Ende September, als das Unternehmen vom Mutterhaus Siemens abgespalten wurde. De facto liegen hier die Ursprünge des gesamten Konzerns. 1866 erfand Werner von Siemens an der Spree das dynamo- elektrische Prinzip. Bald trieben Siemens-Turbinen die Elektrifizierung in allen Teilen der Welt voran, und Berlin wurde zur leuchtenden „Elektropolis“.
Jetzt ist Berlin erneut der Mittelpunkt. Im September entschied der neue Konzern, mit der Zentrale in die Hauptstadt zu ziehen. Nicht nur wegen der Wurzeln. „Es ist vor allem der richtige Ort, weil man dort nah an der Politik und an den Verbänden ist, das sind wichtige Gesprächspartner für uns", sagte Vorstandschef Dr. Christian Bruch der „FAZ“. Man wolle die Debatte um die Energiewende „aktiv und intensiver mitgestalten“. Die Entscheidung, die Energie-Aktivitäten abzuspalten, folgt einer strategischen Neuausrichtung. Der übrige Siemens-Konzern soll fitter und schlagkräftiger werden. Der Börsengang von Siemens Energy war der bislang größte Spin-off einer Sparte in Deutschland.
VME-Hauptgeschäftsführer Christian Amsinck begrüßte Siemens Energy in der Hauptstadt. „Das ist eine sehr gute Nachricht in schwieriger Zeit", befand er. „Die Energiewirtschaft ist seit jeher ein starkes Standbein der Industrie in der Stadt.“ Jetzt gehe es darum, das neue Unternehmen zu unterstützen und seine Position als wichtiger Player zu stärken. Es ist der zweite Paukenschlag rund um Siemens binnen kurzer Zeit. 2018 beschloss der Konzern, 600 Millionen Euro in den Umbau der Siemensstadt zu investieren. Dort soll ein Vorzeigequartier entstehen, das Arbeiten, Forschen und Wohnen verbindet.
Siemens Energy ist vom Start weg ein Schwergewicht mit 27,5 Milliarden Euro Umsatz und gut 91.000 Beschäftigten in mehr als 90 Ländern. 5.000 von ihnen arbeiten in Berlin, unter anderem im Gasturbinenwerk in Moabit und im Schaltwerk in Spandau. Möglicherweise kommt sogar ein Aufstieg in den Aktienindex Dax in Reichweite. Dann hätte die Stadt neben dem Essenslieferanten Delivery Hero einen zweiten Konzern in der obersten deutschen Börsenliga.
Siemens Energy deckt die gesamte Wertschöpfungskette des Energiemarktes ab. Dank der 67-Prozent-Beteiligung am Windkraftbauer Siemens Gamesa ist man einer der Weltmarktführer bei Erneuerbaren Energien. Rund ein Sechstel der global erzeugten Energie wird heute mit Turbinen, Kraftwerksteilen, Windanlagen, Transformatoren und Schalttechnik des Unternehmens produziert. Vieles davon entsteht in Berlin.
Dr. Bruch, Jahrgang 1970, leitet das Unternehmen seit Mai. Davor war er 15 Jahre bei Linde. In die Hauptstadt kommt er nur mit einem kleinen, 150-köpfigen Team. Er plant, das Portfolio von Siemens Energy umzubauen. Klimawandel und Energiewende verändern Geschäft und Technologie. Die Digitalisierung und die Pandemie beschleunigen den Strukturwandel. „Wir brauchen eine Vielfalt von Lösungen für die Transformation. Wir müssen Mut zu Zwischenlösungen haben. Die Energiewende passiert nicht von heute auf morgen, sie kann nur Schritt für Schritt erfolgen.“
Parallel zur Energiewende dürfte der weltweite Stromverbrauch bis 2050 um 50 Prozent steigen. Davon will auch Siemens Energy profitieren. Das Unternehmen arbeitet an Hybridsystemen, die regenerative Energie, Gasturbinen- und Speichertechnik kombinieren. Laut Bruch liefern solche Gesamtpakete bessere Antworten als Einzellösungen von Wettbewerbern. Dass Siemens Energy im Umbruch ist, zeigt nicht zuletzt die Entscheidung, aus dem Neugeschäft mit Kohlekraftwerken auszusteigen. Bestehende Verpflichtungen aus laufenden Projekten will der Konzern noch erfüllen. Auch das CO2-reduzierende Service- und Lösungsgeschäft bleibt im Produktportfolio.
Heute stammt bereits mehr als die Hälfte des Umsatzes aus nachhaltigen Lösungen. Um diesen Anteil zu steigern, will das Unternehmen jedes Jahr rund eine Milliarde Euro in Forschung und Entwicklung investieren. Geforscht wird vor allem an Netzstabilität, Speicherlösungen, neuen Technologien wie Wasserstoff und an Verfahren, die Gasturbinen intelligent mit erneuerbaren Energien verknüpfen.
Mit dem Senat erarbeitet das Unternehmen nun ein Standort- und Strukturkonzept. Geprüft wird, ob die neue Firmenzentrale am Gasturbinenwerk in Moabit angesiedelt werden kann. Das Land will Siemens Energy bei der Transformation der Fertigung unterstützen, damit Jobs gesichert werden können. Dazu soll auch die Straßenbahnlinie M10 verlängert werden, um das Werk an der Huttenstraße besser anzubinden.